10 Sep TLZ Interview: Schipanski über Flüchtlingskrise und Versäumnisse von Rot-Rot-Grün
Herr Schipanski, Thema Flüchtlinge: Welche Eindrücke haben Sie aus Ihrem Wahlkreis mit nach Berlin genommen?
Zunächst gibt es eine große Hilfsbereitschaft unter den Menschen in Thüringen, für die ich mich bedanke. Aber die Bilder von Flüchtlingen, von Flüchtlingsströmen lösen bei vielen auch gewisse Unsicherheiten und Ängste aus. Mir ist wichtig, dass diese Menschen und auch wir Politiker über die Ängste reden dürfen, ohne dass man gleich in eine rechte Ecke gestellt wird. Egal, ob diese Ängste begründet sind oder nicht: Man muss sie erst mal kommunizieren, um sich damit auseinanderzusetzen. Auch von Seiten der Politik muss gesagt werden, wie wir diesen Flüchtlingsstrom steuern wollen und wie Integration vor Ort gelingen kann.
Hier sehen Sie Defizite?
Ich habe feststellen müssen, dass eine solche Kommunikation von Seiten der Thüringer Landesregierung gar nicht stattfindet und somit auch die Flüchtlingspolitik im Freistaat ein Stück chaotisch wirkt.
Was genau erwarten Sie von Rot-Rot-Grün?
Zum einen muss man natürlich mit den Leuten kommunizieren, wo Einrichtungen entstehen. Stichwort Bürgerbeteiligung: Ich denke, das muss auch passieren, wenn es um die Entscheidung von Erstaufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften geht. Es ist wichtig, mit den Leuten vor Ort ins Gespräch zu kommen, zu erklären, Sorgen ernst zu nehmen und ihnen klar zu sagen, wie Integration vor Ort gelingen soll.
Haben Sie ein Beispiel aus Ihrem Wahlkreis?
In Ohrdruf habe ich es beispielsweise erlebt, dass noch nicht mal die lokalen Behörden informiert werden. Wir haben es am Standortübungsplatz erlebt, wo über Nacht Flüchtlinge einquartiert wurden – sicherlich aus guten Gründen. Trotzdem muss ich Lokalpolitiker, Stadträte und die Bürgerinnen und Bürger vor Ort auch mitnehmen. Da erwarte ich, dass der Migrationsminister und der Innenminister auch mal dorthin kommen und auf die bestehenden Ängste antworten.
Von welchen Sorgen und Ängsten sprechen Sie eigentlich?
Was ich mitbekommen habe: Ein Großteil der Flüchtlinge sind Muslime, und wir erleben es ja immer wieder, dass der Islam von Radikalen für gewisse Zwecke missbraucht wird. Das macht vielen Menschen Angst. Aber auch wenn wir viele friedliche Muslime bei uns in Deutschland haben, braucht man ein Konzept für die Integration von Muslimen in einem Land, das auf christlichen Werten gegründet wurde.
Speziell in Ostdeutschland sehen wir, dass die Integrationspolitik der alten Bundesrepublik nicht vollends gelungen ist. Wie haben gerade in westdeutschen Großstädten viele Parallelgesellschaften; es gibt Viertel, wo sich noch nicht mal die Polizei ‘reintraut. Da ist Integration fehlgeschlagen. Und ich glaube, viele Ostdeutsche kommunizieren einfach: Das wollen wir nicht, wir wollen eine andere Art von Integration.
Gibt es noch andere Sorgen?
Ja, das betrifft die Tatsache, dass die Thüringer Landesregierung die Begriffe Zuwanderung und Asyl vermengt. Wir haben eine mögliche Zuwanderung nach Deutschland auf legalem Wege, und auf der anderen Seite das Asylrecht, was wirklich Bedürftigen, Stichwort Syrien, zur Verfügung steht – aber eben nicht für sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge. Das ist ein Fakt, den die Landesregierung ausblendet, indem sie sagt, jeder soll über das Asylrecht zu uns kommen. Doch das ist etwas, dass das Grundgesetz und die Bundesgesetze ausdrücklich nicht vorsehen. Da sind Sorgen entstanden, weil sich die Landesregierung lange Zeit geweigert hat, diese Wirtschaftsflüchtlinge konsequent und unfreiwillig abzuschieben.
Im Vorgespräch berichteten Sie von Bürgern, die das Gefühl haben, ihre Ängste nicht öffentlich äußern zu dürfen. Wie denken Sie darüber?
Zunächst einmal: Gewalt darf keine Art sein, seine Ängste zu kommunizieren – so, wie wir das in Sachsen erlebt haben. Auch nicht tolerieren kann man Beleidigungen, Hetze, Verleumdungen, etwa in sozialen Netzwerken, oder auch das Mitlaufen bei Demonstrationen von offensichtlich Rechtsradikalen.
Aber?
Aber sachlich vorgetragene Befürchtungen, der Ruf nach Sicherheitskonzepten, die frühe Einbeziehung der Bürger: Das muss auch in einer Mediendemokratie erlaubt sein, ohne stigmatisiert zu werden. Die CDU-Fraktion im Landtag hat in der Sondersitzung diese Ängste der Bevölkerung auch ein ganzes Stück vorgetragen. Wenn die Landesregierung aber behauptet, es gibt solche Ängste nicht, dann ist das realitätsfern und gefährlich, weil Politik mit dem Betrachten der Wirklichkeit beginnt.
Sie sprachen von der Mediendemokratie. Kommen die von Ihnen angesprochenen kritischen Sichtweisen in den Medien zu wenig vor?
Ich weiß nicht, ob sie zu wenig vorkommen. Aber oft wird zu den Leuten, die ihre Bedenken und Fragen äußern, reflexartig gesagt, „der ist rechts“. Und da muss ich sagen, das ist der falsche Weg.
Eine Polarisierung – hier das helle Deutschland und dort das dunkle -, wie sie Bundespräsident Gauck vorgenommen hat, halten Sie da sicher nicht für förderlich.
Nein, das war eine sehr unglückliche Formulierung.
Das Flüchtlingsthema wird Thüringen und Deutschland noch Jahre, eher Jahrzehnte beschäftigen. Wie viele Flüchtlinge verträgt das Land?
Das ist zum heutigen Zeitpunkt schwer zu beantworten. Es ist schon eine große Herausforderung, die prognostizierten 800.000 Menschen aufzunehmen. Nebenbei gesagt, haben wir neben den Asylbewerbern auch noch eine ganz reguläre Wirtschaftszuwanderung. Da müssen wir jetzt einen Ausgleich finden, was sich in der politischen Debatte zeigen wird. Eine Zahl vermag ich derzeit jedoch nicht zu nennen.
Wir bekommen nur natürlich vor Ort mit, dass dadurch, dass die Thüringer Landesregierung monatelang auf Abschiebungen von Nicht-Asylberechtigten verzichtet hat, die Plätze für die eigentlich Asylberechtigten aus Syrien belegt sind, und dass dadurch die Akzeptanz in der Bevölkerung sinkt.
Wie stehen Sie zu Taschengeldkürzungen, konsequenteren Abschiebungen, Grenzkontrollen, wie zuletzt von CDU-Politikern zu hören war?
Der Koalitionsausschuss hat dazu gerade Beschlüsse gefasst. Selbstverständlich gehört dazu auch, dass die EU-Staaten gemeinsam entscheiden, was sichere Herkunftsländer sind. Dazu gehören meines Erachtens die Balkanstaaten Kosovo, Albanien und Montenegro. Dazu gehört auch, dass gerade Leute aus diesen Ländern in der Erstaufnahmeeinrichtung verbleiben und nicht auf die Kommunen verteilt werden. Und man sollte Fehlanreize beseitigen, indem man das Bargeld durch Sachleistungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen ersetzt.
Wir werden uns überhaupt Gedanken machen müssen über die Gesetzes- und Rechtslage angesichts dieses großen Flüchtlingsstroms – einige sprechen von Völkerwanderung oder einem epochalem Ereignis. Gerade die Rechtsprechung zum Asylrecht ist seinerzeit auf einer ganz anderen Grundlage mit ganz anderen Zahlen ausgeurteilt worden.
Stichwort Fehlanreize: Ungarns Regierungschef Orbán gibt Deutschland einen Großteil der Schuld an der Flüchtlingskrise, weil es die Hoffnungen der Leute weckt. Wie sehen Sie das?
Die Wortwahl des ungarischen Präsidenten halte ich für unangemessen. Dennoch hat etwa der Winterabschiebestopp der rot-rot-grünen Landesregierung eine Sogwirkung entfaltet. Das spüren wir in ganz Deutschland. Ich glaube aber auch, dass es Fehlinformationen vor Ort gibt, die ein falsches Bild von Deutschland entstehen lassen. Deshalb haben wir auch gerade eine große Aufklärungskampagne in der Balkanregion gestartet.
Wir haben viele Wege der legalen Zuwanderung. Innerhalb der Europäischen Union haben wir sowieso die volle Freizügigkeit. Und für sogenannte Drittstaaten gibt es eine große Liste an Mangelberufen, wo die Leute heute schon zuwandern und die Wirtschaft Fachkräfte bekommen kann. Auch Menschen vom Balkan, die hier arbeiten möchten, haben legal die Möglichkeit, zuzuwandern. Aber ich spreche mich vehement dagegen aus, einfach einen Statuswechsel zu machen, was Linke und SPD fordern: dass ich über das Asylrecht hierher komme, dann meinen Status wechsle und sage, jetzt möchte ich Wirtschaftszuwanderer werden, um dann hierzubleiben. Da muss es weiterhin eine klare Trennung geben.
Die Thüringer Grünen-Abgeordnete Katrin-Göring-Eckardt hat die Bürger aufgerufen, Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen. Wie stehen Sie zu diesem Vorschlag?
Frau Göring-Eckardt gehört zu den Politikern, die eben nicht zwischen den Wirtschaftsflüchtlingen und den politisch verfolgten Flüchtlingen unterscheiden – sondern sagt, auch die Leute aus der Balkanregion müssen alle hier vor Ort bleiben dürfen. Da vertrete ich eine grundsätzlich andere Auffassung. Ich bin der Ansicht, dass, wenn wir die nicht asylberechtigten Balkanflüchtlinge konsequent rückführen, wir für die syrischen Flüchtlinge auch entsprechende Kapazitäten haben. Deshalb sehe ich nicht die Notwendigkeit, Privatleute in irgendeiner Art und Weise dazu zu drängen, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Freiwillig kann das natürlich jeder tun.
Das Interview führte Matthias Benkenstein am 9. September 2015